Am Sonntag wählt Mexiko seine erste Präsidentin. Drohungen, Entführungen und Morde verwandeln den Wahlprozess in den gewalttätigsten der Landesgeschichte. Gefährdet sind vor allem Kandidaten auf lokaler Ebene.
Erschienen am 1.6.2024 in der Aargauer Zeitung
Diana Hernández ist untergetaucht. Am 15. April meldete sie sich zum letzten Mal bei ihrem Umfeld. «Ich habe ein Problem», hiess es in der Textnachricht. Den Empfängern war klar: Die Politikerin wurde von einem Kartell bedroht. Solche Drohungen sind im aktuellen Wahljahr keine Seltenheit – und sie sind ernst zu nehmen.
31 Kandidaten und 63 Amtsträger wurden bereits ermordet, zahlreiche weitere bedroht oder entführt. Am 2. Juni wählt Mexiko eine neue Präsidentin sowie Funktionäre auf allen Staatsebenen. Dabei wollen Drogenkartelle mitreden. Das hat dazu geführt, dass Hunderte ihre Kandidatur zurückzogen. Der Wahlprozess 2024 ist der gewalttätigste in Mexikos Geschichte.
500 Kandidatinnen und Kandidaten haben im Laufe des Wahlprozesses Personenschutz beantragt, wie der scheidende Präsident Andrés Manuel López Obrador am 21. Mai bekannt gab. Im Visier sind vor allem Kandidaten auf Gemeindeebene. «Kartelle kämpfen auf lokaler Ebene um Territorien», sagt María Calderón vom amerikanischen Wilson Institute. Der Grund: Wer die lokalen Ämter kontrolliert, kontrolliert den lokalen Markt.
Permanent mit dem Schlimmsten rechnen
Im Bundesstaat Guerrero, wo Diana Hernández wohnt, sind Politikerinnen während der diesjährigen Wahlen am meisten gefährdet. 8 Kandidaten und 15 Amtsträger wurden dort bereits ermordet. Die Kartelle kontrollieren hier Schlafmohnfelder und Fentanylküchen, deren Opiate für den amerikanischen Markt bestimmt sind.
Hernández, Mitglied der linksgerichteten Regierungspartei Morena, kandidiert dieses Jahr für kein Amt, ruhig war sie aber keinesfalls. Wenige Tage vor ihrem Untertauchen sprüht die 37-Jährige an einer Zusammenkunft von Aktivisten noch vor Energie. Sie ruft zur Verfolgung der Mörder ihres Vaters auf. Dieser wurde durch ein Kartellmitglied getötet.
Hernández geht bei ihrem Auftritt auch forsch auf einen Polizisten zu, der die versammelten Aktivisten fotografiert. Wer weiss, ob der ein Spion ist, sagt sie. In Mexiko ist der Staat tief in die Kartellaktivität verwickelt, inklusive Militär und Politik. Wer in Guerrero die Stimme erhebt, muss mit dem Schlimmsten rechnen.
Verbrechen bestimmt, wer gewählt wird
«Die Drogenkartelle lassen zwar mehrere Kandidaten antreten, geben der Dorfbevölkerung aber klar zu verstehen, welchen sie zu wählen hat», sagt Jacinto González in seinem Büro in Guerreros Hauptstadt Chilpancingo. Der 34-Jährige präsidiert dort die Partei Morena und hofft auf die Wiederwahl als Senator des Gliedstaats. Auch ihm drohen die Kartelle mit dem Tod. Deshalb ist er auf der Strasse stets mit Personenschützern unterwegs.
«Das organisierte Verbrechen braucht Verbündete als Bürgermeister», sagt González. Teils stellen die Kartelle dafür eigene Mitglieder für die Ämter auf, manche Politiker können sie kaufen, andere bedrohen sie.
González ist in einem von der Kriminalität kontrollierten Dorf aufgewachsen. Seine erste Einladung, mit Kartellen zusammenzuarbeiten, erhielt er mit 24 Jahren von einer ehemaligen Schulkollegin. Grosse Wahlchancen rechnet er sich für den 2. Juni abseits der Städte nicht aus: «Manche Leute sagten uns, sie könnten für unseren Kandidaten stimmen, wenn am Wahltag das Kartell nicht vor Ort ist, sonst würden die Kartelle ihre Häuser niederbrennen.»
Mangelnder Wille der Regierung
Präsident López Obrador findet das Ganze halb so wild. Er hält die rekordbrechende Gewalt nicht für ein Risiko für die Demokratie in seinem Land. Es handle sich um «sehr spezifische Fälle», sagte er Ende März dem US-Sender CBS. Für Expertin María Calderón ist klar: «Auf Regierungsseite mangelt es an Willen, politische Kandidatinnen zu schützen.» Prävention politischer Gewalt habe in Mexiko keine institutionelle Basis, falle also in niemandes Verantwortlichkeit.
Auf makabre Art wird die Ignoranz der Regierung anhand von Zahlen des Präsidenten der Morena-Partei deutlich. Mit 10 ermordeten Politikern haben sie die höchste Opferzahl aller mexikanischen Parteien. Weshalb schafft es Präsident López Obrador also nicht, seine eigenen Leute vor Anschlägen zu schützen?
Jacinto Gónzalez, der Morena-Präsident des Bundesstaats Guerrero, antwortet diplomatisch: «Er ist der Präsident aller Mexikaner und kann sich nicht um einzelne speziell kümmern.» Deutlicher sagt es Journalist Sergio Ocampo: «Parteien in Mexiko funktionieren wie Unternehmen. Sie orientieren sich nach Angebot und Nachfrage und haben immer genügend Kandidaten, die nachrücken», so der Korrespondent der Tageszeitung «La Jornada».
Kürzlich hat Diana Hernández ein Lebenszeichen an ihre engsten Vertrauten versandt. Bis zu den Wahlen wird dies wohl alles sein, was man von ihr hört.