US-Frauen treiben dank Post aus Mexiko ab

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Frauennetzwerke in Mexiko ermöglichten jahrzehntelang im Verborgenen Abtreibungen, 2021 wurden sie entkriminalisiert. Stattdessen bitten nun Frauen aus den USA um deren Hilfe.

Drei junge Frauen begrüssen sich in einem Café der mexikanischen Grenzstadt Juarez. Aber sie sind nicht zu einem Kaffeekränzchen erschienen. Maria Cristina (Name geändert) ruft derzeit Gleichgesinnte zusammen, weil sie mehr Freiwillige braucht. Zwischen den Café-Frappés liegen Ratgeber zur Abtreibung mit Medikamenten. Die Gruppe «Aborteras del Norte», also Abtreibungshelferinnen des Nordens, hilft Frauen, ihre Schwangerschaft abzubrechen. Die Nachfrage ist in den letzten Monaten deutlich gestiegen. Die neuen Hilfesuchenden wohnen nicht in Mexiko. Es sind Amerikanerinnen, in deren Bundesstaat Abtreibung inzwischen unter Strafe steht.

Seit der Aufhebung des Entscheids «Roe versus Wade» im Juni 2022 können US-Bundesstaaten ihre eigenen Normen zum Schwangerschaftsabbruch machen. Vor allem Südstaaten setzten Abtreibung in den Folgemonaten unter Strafe. Das bekamen mexikanische Frauennetzwerke umgehend zu spüren. Die Frauenorganisation Marea Verde («grüne Welle»), an die Maria Cristina sich angeschlossen hat, spricht von 140 bis 180 Frauen monatlich, die sie im Bundesstaat Chihuahua begleitet, davon sind inzwischen 10 bis 15 aus den USA. Zuvor waren es nur vereinzelte Fälle. Gerade aus Texas, woran Juarez grenzt, kommen viele Anfragen.

Frauennetzwerke verhelfen zur sicheren Abtreibung

Seit Jahrzehnten verhelfen mexikanische Frauennetzwerke ihren Schwestern, wie sie sie nennen, zu Schwangerschaftsabbrüchen. Formell wurde die erste Organisation im Jahr 2000 gegründet, als der Eingriff noch landesweit verboten war. Die Einführung der sogenannten Abtreibungspille Mifepriston vereinfachte ihre Arbeit deutlich. Sie kann nach den Beratungsgesprächen in Kombination mit dem Medikament Misoprostol diskret per Post an die Frauen verschickt werden.

Möchte eine Frau keine Post empfangen, etwa, weil sie mit Eltern, Freund oder Mann zusammenlebt, wird ein Treffen vor Ort vereinbart. Der Fall von Familienfrauen kommt nicht selten vor, nach Angaben von «Marea Verde» gehen mehr Anfragen von mehrfachen Müttern ein als von Jugendlichen. Für Frauen aus Texas ist die Reise nach Juarez oft einfacher und günstiger als jene in einen anderen US-Bundesstaat.

Begleiterinnen wie Maria Cristina werden geschult, um die Hilfesuchende vor, während und nach dem Abbruch nach Anleitungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu beraten, und sie stehen in Kontakt mit einer Gynäkologin. Maria Cristina sagt: «Die meisten Frauen sind beim Erstgespräch sicher, dass sie abtreiben wollen. Spüre ich Unsicherheit, gebe ich ihnen Kontakte von Beratungsstellen.»

Die Dienstleistung ist kostenlos. Die Medikamente, sie kosten etwa 30 Franken, kann die Hilfesuchende in der Regel selbst bezahlen. Dies geschieht via eine Onlineapotheke, die mit den Frauennetzwerken kooperiert. Kann eine Frau das Geld nicht aufbringen, verfügen die Organisationen über gespendete Medikamente von Pharmafirmen.

Entkriminalisierung in Mexiko, Verbot in den USA

2021 gelang den mexikanischen Frauenrechtlerinnen eine Revolution: Das Oberste Gericht erklärte die Kriminalisierung von Abtreibungen landesweit für verfassungswidrig. Der Entscheid fiel aufgrund eines Gerichtsfalles, den Anwältinnen der feministischen Frauennetzwerke mittels Beschwerde erwirkt hatten. Eine Strategie, die zuvor bereits ähnliche Fälle vor Gericht gebracht hatte und die weiter angewendet wird, um Präzedenzfälle zu schaffen.

«Mit unseren Beschwerdefällen verlangen wir nicht wörtlich die Legalisierung der Abtreibung, sondern den Zugang zum Gesundheitswesen.» Das sagt Laura Dorado, Anwältin und Gründerin ihrer eigenen Frauenorganisation im Bundesstaat Chihuahua. Denn Gesundheit sei es, was Frauen mit einem Abtreibungsverbot verwehrt werde.

Mit der Entkriminalisierung ging den Begleiterinnen die Arbeit nicht aus. Noch immer ist die Stigmatisierung gross, nicht nur vonseiten religiöser Gruppen. Ein halbes Jahr nach dem Jubel wurde im nördlichen Nachbarland das national geltende Recht auf Abtreibung widerrufen. Maria Cristina erinnert sich: «Wir weinten. Ein seit Jahrzehnten etabliertes Recht auf Bestimmung über den eigenen Körper wurde plötzlich ausser Kraft gesetzt.»

Die USA sind kein Vorbild mehr

Mit Unverständnis schauten die mexikanischen Frauenrechtlerinnen auf die Entwicklungen in den USA, die lange ihr Vorbild waren. So auch Blanca (Name geändert), Vorsteherin einer anderen Gruppe in Juarez, die Abtreibungsbegleitung anbietet: «Eben noch hatten wir Frauen nach El Paso auf die amerikanische Seite begleitet, damit sie ihre Schwangerschaft abbrechen konnten. Jetzt sind es texanische Frauen, die unsere Hilfe benötigen.»

«Jetzt sind es auf einmal texanische Frauen, die unsere Hilfe benötigen.»

Blanca, Abtreibungsbegleiterin

Auch Blanca muss ihr Netzwerk vergrössern, um den Anfragen aus den USA gerecht zu werden. Zudem werde Desinformation zu Folgen einer Abtreibung verbreitet. «Diese müssen wir mit korrekter Information bekämpfen», sagt sie.

Für Frauen in Texas müssen mexikanische Begleiterinnen sehr aufmerksam sein, denn das texanische Abtreibungsgesetz verspricht Denunzianten eine Belohnung. Zudem warnen amerikanische Frauenorganisationen vor digitaler Überwachung, etwa bei Gebrauch von Menstruations-Apps oder dem Besuch von Websites mit Abtreibungsinformationen. Laura Dorados Kollegin Paula (Name geändert) sagt deshalb: «Wir verwenden für den Kontakt mit Texanerinnen eine spezielle Nachrichten-App.»

Die Abtreibungspillen werden von Frauennetzwerken im Paket mit Monatsbinden verschickt. Bild: Flurina Sirenio
Die Abtreibungspillen werden von den Frauennetzwerken im Paket mit Monatsbinden verschickt. Bild: Flurina Sirenio

Manchmal wolle sich die begleitete Frau nicht im Video zeigen, dann würden Text- oder Sprachnachrichten ausgetauscht. Bei einer Begleitung letztes Jahr war eine 22-jährige Schwangere aus Dallas so verängstigt, dass sie zwar ihre Hausnummer, doch nicht die Nummer ihrer Wohnung nannte, wo sie in einer WG wohnte. «Das Paket mit den Medikamenten kam wieder zurück und wir verloren einen ganzen Monat», so Paula.

Die Frau war im zweiten Trimester, als der Abbruch stattfand. «Die Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation deckt auch diese Wochen ab, die Fernbegleitung musste aber intensiver sein, auch psychologisch», so Paula.

Ihr Schützling habe alles minutiös geplant, selbst die Behandlung bei einer Psychologin nach dem Eingriff. Sie habe ein Hotelzimmer gemietet, um Zeugen zu vermeiden, und bereits gewusst, was sie mit dem Fötus machen werde. «Sie brauchte einen rituellen Schlussstrich. Sie verbrannte den Fötus und verstreute seine Asche neben einer Pflanze im Garten», sagt Paula. Bis in die Nacht betreute sie die Amerikanerin in Dallas aus der Ferne. Damit sich die Frau nicht alleine fühlt, spricht Paula jeweils in der Wir-Form: «Jetzt wird bei uns die Blutung einsetzen, es ist möglich, dass uns Muttermilch austritt.»

Sie wirken im Verborgenen über die Grenze hinweg

Im Verborgenen wirken und halblegale Wege beschreiten. Das ist Routine für die mexikanischen Freiwilligen, aber Neuland für die Amerikanerinnen. Die entwickelten Strategien der Mexikanerinnen werden nun zu ihrem Leitfaden. Bereits hat sich ein grenzüberschreitendes Netzwerk gebildet, innerhalb dessen Schulungen veranstaltet und juristische Vorgehensweisen weitergegeben werden. Auch zu politischem Lobbying können die mexikanischen Frauenrechtlerinnen aus reichlicher Erfahrung sprechen.

Eine neue Herausforderung würde der Entzug der Zulassung von Mifepriston bewirken, wie es ein Bundesgericht in Texas entschieden hat. Der Entscheid wird aber von der US-Regierung bekämpft. Wird das Medikament nicht mehr zugelassen, würde sich eine Amerikanerin, die es aus Mexiko erhält, allein durch die Zusendung strafbar machen.

Anwältin Laura Dorado gibt sich jedoch optimistisch: «Auch wir mussten immer wieder grössere Hürden erklimmen. Wann immer es ein neues Problem gab, klickten sich alle in die sozialen Medien ein, um sich zu organisieren und Lösungen zu finden. Deshalb glaube ich, dass auch zukünftige Hürden bewältigt werden.»

Die Medikamente für Abtreibungen

Die Kombination von Mifepriston und Misoprostol wird auch in der Schweiz für den medikamentösen Schwangerschaftsabbruch verwendet, in der Regel bis zur siebten Schwangerschaftswoche. Nach einer Tablette Mifepriston nimmt der Körper die Schwangerschaft nicht mehr wahr. Das danach eingeführte Misoprostol (zwei bis vier Tabletten) führt zum Ausstoss des Schwangerschaftsgewebes. Gemäss der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist die Durchführung zu Hause risikoarm . (sif)