Am 11. Mai läuft die berüchtigte US-Migrationsregel «Title 42» aus, die eine umgehende Rückweisung ermöglichte. Doch während viele an der Grenze Gestrandeten den Tag herbeisehnen, fürchten andere eine Verschärfung und wollen vorher illegal über die Grenze. Eine Reportage.
Richard Arcias Schuhe tauchen bei jedem Schritt in den heissen Sand ein. Es ist mühsam, am Stadtrand der mexikanischen Stadt Juarez am Ufer des Grenzflusses Rio Bravo entlang zu gehen, noch dazu in der Nachmittagshitze. Doch er ist entschlossen: Heute will er über die Grenze in die USA. Zur Mauer sind es nur ein paar Meter. Sie befindet sich auf US-Gebiet. Für den illegalen Übertritt muss er sie also gar nicht bezwingen, sondern nur darauf warten, bis eine Grenzpatrouille ihn aufgreift.
«Gehe unbedingt vor dem nächsten Busch über den Fluss», brüllen dem Burschen ein paar Landsleute vom amerikanischen Flussufer zu. «Im Gebüsch versteckt sich eine Bande, die uns eben ausgeraubt hat!»
Der 23-jährige Venezolaner ist einer von 35’000 gestrandeten Migrantinnen und Migranten in Juarez. Und täglich kommen mehr in Güterzügen an, auf die sie unterwegs aufspringen. Viele mit kleinen Kindern.
Richard Arcias hat zuerst fünf Jahre in Peru gelebt, bevor er Richtung USA aufbrach. Er hat den tropischen Dschungel Darién im Grenzgebiet von Kolumbien und Panama durchquert und dort, wie fast jeder seiner Schicksalsgenossen, Tote gesehen, die Angreifern oder giftigen Tieren zum Opfer gefallen waren. Er wurde, bis er an die US-Grenze kam, mehrmals um grössere Geldbeträge erleichtert. In Mexiko oft durch Polizisten, wie er sagt.
Flucht vor Gewalt und Hunger
Noch nie hat die mexikanisch-amerikanische Grenze einen solchen Ansturm erlebt. Menschen aus Zentralamerika, Haiti, Kuba und Mexiko ziehen seit Jahren aufgrund von Gewalt, Konflikten oder Hunger gen Norden.
Richard Arcias will unbedingt vor Auslaufens der «Title 42»-Regel illegal die Grenze zu überschreiten. Ab dem 11. Mai gilt die von Ex-Präsident Donald Trump in Pandemiezeiten verhängte Regel auf Basis des Public Health Service Act nicht mehr. Migranten können dann nicht umgehend wieder nach Mexiko zurückgeschickt werden, wenn die Grenzpatrouille sie aufgreift
Doch gerade weil der Wegfall der Pandemieregel nach Vereinfachung klingt, traut der Venezolaner dem Ganzen nicht. Er sagt: «Ich bin sicher, dass die Behörden nach dem 11. Mai viel strenger über einen Aufenthalt entscheiden, weil dann noch viele mehr über die Grenze wollen. Deshalb muss ich es jetzt versuchen.»
Grosse Unsicherheit, was nun kommt
Nach der Ära «Title 42» gilt das bisherige Migrationsrecht, dazu neue Normen, von denen einige noch in Ausarbeitung sind. Über die Details und vor allem darüber, wie sie dereinst angewendet werden, herrscht grosse Unsicherheit unter den Migranten. Seit Wochen kursieren Spekulationen und Gerüchte.
«Ich glaube, nach dem 11. Mai werden sie uns ins Land lassen», sagt die junge Venezolanerin Rosy, die wegen den überfüllten Flüchtlingsunterkünften in einem improvisierten Zeltlager haust. «Die Informationen, die ich in sozialen Medien lese, sind so verwirrend, dass ich gar keine mehr glaube», sagt Andres, der mit Frau und Tochter aus Kolumbien gekommen ist, weil die 16-Jährige beim Einkaufen Zeugin eines Auftragsmordes eines Drogenkartells wurde.
Richard Arcias kann die Mauer schon fast anfassen. Er watet durch den knöcheltiefen Fluss und kriecht unter dem Teilstück des Rasierklingendrahts hindurch, den andere mit Wolldecken umwickelt haben. Der Menschenstrom bewegt sich in Richtung der Grenzpatrouille. Die Chance auf Asyl mit dem illegalen Grenzübertritt ist klein. Dass trotzdem täglich Dutzende Migranten dafür in der Sonne Schlange stehen, zeigt, wie gross Verwirrung und Verzweiflung in Juarez sind.
Und ja. Der junge Venezolaner steht zwei Tage später wieder auf mexikanischem Boden, im 1000 Kilometer entfernten Tijuana. Ein bekanntes Vorgehen, das für Orientierungsschwierigkeiten sorgen soll.
Schlepper machen das grosse Geschäft
Schlepper garantieren, ihre Kunden in einem sicheren Haus jenseits der Grenze abzuladen, doch beträgt der Preis mittlerweile 10’000 Dollar pro Person. Und nicht selten kommt es vor, dass der Transport ins gelobte Land zur Entführung wird. So sagt der Priester Oscar Enriquez, Leiter des Organisation «Paso del Norte» in Juarez: «Einige Schlepper entführen Migranten und erpressen telefonisch bei ihren Verwandten Lösegeld.»
Polizei und andere mexikanische Behörden, so Priester Enriquez, seien bestechlich und liessen das Verbrechen gewähren. Dazu gehörten auch Entführungen junger Migrantinnen, um sie in die Prostitution zu verkaufen, oder die Rekrutierung Jugendlicher durch Banden.
In Mexiko hätten viele Migranten eine reelle Chance, zumindest ein temporäres humanitäres Visum zu erhalten. Doch «in keinem Land haben uns Migrationsbehörden und Polizei so schlecht behandelt, wie in Mexiko», sagt Venezolanerin Rosy stellvertretend für viele.
Der letzte Tropfen dürften die 40 bei einem Brand umgekommenen Migranten gewesen sein. Die Sicherheitskräfte hatten am 27. März den damals Eingesperrten in einem Migrationszentrum nachweislich trotz des Feuers die Türen nicht entriegelt. Seine Arbeit als knurrender Wachhund der USA macht Mexiko somit gut. Ob das aber reicht, Menschen zurückzudrängen, deren Kompass seit Monaten strikt nach Norden zeigt, ist fraglich.