Eine Bolivianerin mit Orangensaftstand in Cochabamba.

Auslandschweizerin in Bolivien: «Man kann höchstens das kleinere Übel wählen»

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Am Sonntag wählt Bolivien nach einem Jahr Interimsregierung einen neuen Präsidenten. Die unterlegene Partei werde danach für Strassenunruhen sorgen, vermutet die in Cochabamba lebende Schweizerin Katharina Cerny Escobar.

von Flurina Dünki

Publiziert in swissinfo.ch, 15.10. 2020

«Seit einem Jahr haben wir hier einen Schlag nach dem anderen bekommen», sagt Katharina Cerny Escobar, als sie sich aus Cochabamba per Videoanruf meldet. Angefangen habe es mit der Präsidentenwahl im vergangenen November, nach der sich der bisherige Präsident Evo Morales zum Wahlsieger erklärte, dann aber wegen Wahlbetrugvorwürfen und mangels Rückhalt der Armee- und Polizeiführung zurücktreten und ins Ausland fliehen musste. Wochenlang hätten danach in ganz Bolivien Unruhen und wirtschaftliche Instabilität geherrscht. «Und als das Land sich gerade davon erholt hatte, kam Covid.» Nicht nur bedeutete dies einen erneuten Wirtschaftsschwund, einschneidende Erwerbsausfälle für die nicht auf Rosen gebettete bolivianische Gesellschaft und ein Gesundheitssystem, das an seine Grenzen kam – die Neuwahlen, die auf den 3. Mai 2020 angesetzt gewesen waren, konnten nicht durchgeführt werden. Erst wurden sie auf den 6. September verschoben, doch weil sich im August für September ein Höhepunkt der Covid-Erkrankungsfälle abzeichnete, setzte Interimspräsidentin Jeanine Áñez den 18. November fest.

Die Bernerin Katharina Cerny Escobar lebt seit 14 Jahren in Cochabamba, wo sie mit ihrem bolivianischen Mann Roberto eine Reiseagentur führt. «Diese ist seit März geschlossen und bisher konnten wir sie nicht wiedereröffnen», sagt sie. «Wer wie wir noch Ersparnisse hat, der zehrt jetzt an denen.» Inzwischen ist unverhofft ein Erwerbszweig hinzugekommen. Wie viele andere hat sie in der freien Zeit mit ihrer siebenjährigen Tochter Backrezepte ausprobiert, unter anderem Buttergipfeli. «Als ich welche davon Freunden von uns geschenkt habe, fanden sie die so gut, dass sie mir sagten, die solle ich verkaufen.»

Die Wahlpropaganda habe sich schnell einmal an der Pandemie orientiert. Sprüche wie «wir haben den besten Gesundheitsplan» oder «wir haben den besten Plan für die Wirtschaft», seien auf Plakaten von Kandidaten von links bis rechts zu lesen. Wirtschaftlich habe Bolivien stark gelitten, sagt die Schweizerin. Innerhalb der letzten 14 Jahren hätte sich endlich eine Mittelschicht aufgebaut, die jetzt wieder rasant dünner werde. «Ersparnisse auf der Bank zu machen, ist in Bolivien weniger üblich, eher investiert man Geld in ein Geschäft oder ein Haus», sagt sie. Doch meist sei mit solchen Investitionen auch ein Kredit aufgenommen worden, der jetzt nicht mehr abbezahlt werden könne.

Inzwischen hat sich das Kandidatenfeld auf zwei Hauptkandidaten reduziert. Der eine ist der 57-jährige Ökonom Luis Arce der linksgerichteten Partei MAS (movimiento al socialismo, spanisch für: Bewegung zum Sozialismus), der auch der im argentinischen Exil lebende Expräsident Evo Morales angehört. Während Morales’ Präsidentschaft von 2006 bis 2019 war er Wirtschaftsminister. Der andere ist der mitte-rechts-Politiker Carlos Mesa, 67-jährig, Historiker und Journalist. Er amtete bereits zwischen 2003 bis 2005 als Präsident und trat vor einem Jahr bereits gegen Evo Morales an. Mehrere andere Kandidaten rechts der Mitte haben ihre Kandidatur in den letzten Monaten wieder zurückgezogen mit dem Ziel, die konservativen Stimmen in der Person von Carlos Mesa zu bündeln und einen Einzug des linken Luis Arce in den Präsidentenpalast in La Paz zu verhindern. Eine davon ist Interimspräsidentin Jeanine Áñez, deren Auftrag als de-facto-Regentin eigentlich gewesen wäre, lediglich die nächsten Präsidentschaftswahlen zu organisieren. Stattdessen stellte sie sich im Januar selbst zur Wahl, bevor sie ihre Kandidatur im September wieder zurückzog.

Nicht alle Indigenen sind automatisch MAS-Wähler.

Katharina Cerny Escobar

Carlos Mesa würde vor allem von der Ober- und der städtischen Mittelschicht unterstützt, sagt die Schweizerin. Auch, weil dieser Teil der Bevölkerung Angst vor Vergeltungsmassnahmen habe, wenn die linke MAS nach einem Jahr des Übergangs nun wieder an die Macht komme. Hinter dem MAS-Kandidaten Luis Arce würden viele Leute der Landbevölkerung stehen, die meisten von ihnen Indigene, die bereits hinter Evo Morales, dem ersten indigenen Präsidenten des Landes, gestanden hätten. Sie würden befürchten, die Repressionen und Diskriminierung, die sie jahrhundertelang ertragen mussten, würden mit Carlos Mesa zurückkehren. Entgegen der in der westlichen Welt weit verbreiteten Annahme, die indigene Bevölkerung sei geschlossen hinter Evo Morales gestanden, herrschten in Bolivien aber Unterschiede und nicht alle Indigenen seien automatisch MAS-Wähler.

Den einen wählen, um den anderen zu verhindern, das sei mittlerweile nicht nur Politstrategie, sondern auch die Haltung in der bolivianischen Bevölkerung, sagt Cerny Escobar. «Ein wirklich guter Kandidat ist meiner Ansicht nach keiner von beiden, man kann höchstens das kleinere Übel wählen.» Der allgemeine Wahltipp «voto útil – die nützliche Wahl», mache unter den Bolivianern kurz vor der Wahl die Runde. In diesen Tagen herrsche die Ruhe vor dem Sturm. Ausser den Hoffnungen und Befürchtungen von langfristigen Auswirkungen hätten die Menschen im Moment vor allem Angst vor Strassenunruhen, sobald das Wahlresultat verkündet wird – Covid hin oder her. Sei dies nun nach diesem Sonntag oder einem eventuellen zweiten Wahlgang. «Dass die Kampagnenleute des Verlierers Unruhen und Strassenblockaden anheizen werden, steht schon so gut wie fest.»