Publiziert am 25. Oktober 2019 in der Aargauer Zeitung
Flurina Dünki
Tritt man in Julia Nickels Menziker Wohnung, findet man sich im Shabby-Chic-Paradies wieder. Esstisch, Kommode, Buffet und Sekretär sind ein Set in den Farben weiss-rosa, auf dem einen Möbel steht eine Etagère, auf dem anderen ein Porzellankännchen. «Für ein paar Franken auf ‹Ricardo› ersteigert», sagt die Gastgeberin. «Für das Buffet zahlte ich 2.50 Franken. Sonst hat niemand dafür geboten.» Einen Anstrich später passte es ins weiss-rosa Konzept. «Not macht erfinderisch», sagt sie.
Julia Nickel ist 37 und alleinerziehende Mutter zweier Mädchen. Das ältere ist im Schulalter, das jüngere hüpft an diesem Vormittag im rosa T-Shirt zwischen den Brocki-Möbeln rum. Das Budget der gelernten Hotelfachfrau ist knapp, die dreiköpfige Familie muss mit weniger auskommen als dem, was man in der Schweiz unter dem Existenzminimum versteht (was für eine Person mit zwei Kindern knapp über 4000 Franken beträgt).
Die Tochter kommt gehüpft, die Mama scherzt mit ihr. Im Menziker Wohnzimmer sitzt keine geknickte Frau. In ihrer Stimme steckt Kraft, aus ihren Augen liest sich Tatendrang. «Ich bin niemand, der liegen bleibt», sagt sie. Und doch hat sich ihre jährliche Schenkaktion «Adventskalender umgekehrt» im November 2017 aus einer Situation ergeben, in der sie beinahe liegen geblieben wäre. «Ich hatte nur noch 23 Franken, bis Monatsende ging es aber noch eine Woche. Ich habe alle verbleibenden Lebensmittel aus dem Vorratsschrank geholt und vor mir ausgebreitet – 24 Sachen waren das.»
Mit dieser Zahl überkam es sie, plötzlich vergessen war die siebentägige Durststrecke, die vor ihr lag. «Adventskalender umgekehrt» war geboren. Für jeden der 24 Adventstage etwas Essbares geschenkt bekommen, das würden sich viele wünschen, die in ihrer Situation oder noch schlimmer dran seien. Verdiene man genug, könne man sich das nicht vorstellen, sagt Julia Nickel. «Aber wer mit so wenig Geld auskommen muss, dem muss nur eine Arzt- und danach eine Reparaturrechnung ins Haus flattern und das Budget gerät aus den Fugen.» In vielen Hilfsgruppen, die in den sozialen Medien existierten, würden die Leute nach Lebensmitteln fragen.
Das Adventskalender-Konzept: Einer von Armut betroffenen Person innerhalb der Schweiz ein Paket mit 24 haltbaren Lebensmitteln (plus Porto von 20 Franken) schicken. Noch am selben Abend suchte Julia Nickel unter ihren Facebook-Freunden nach Freiwilligen. Ihr Aufruf hatte Erfolg: Es meldeten sich Freunde und Freunde von Freunden, die ein Esspaket verschicken wollten. «Die Reaktionen freuten mich riesig», sagt die Initiantin. Unter den freiwilligen Helfern war auch ihre heutige rechte Hand Gabriela Langenegger. Sie erledigt die ganze Administration, die mit jedem Jahr mehr wird.
Die Empfänger der Gaben fand Julia Nickel in ihrem Umfeld und in den sozialen Medien. «Einer nach dem anderen lud Fotos der Esswaren in unsere Facebook-Gruppe hoch», sagt sie. Ein Pack Spaghetti, eine Beutelsuppe, eine Fertigrösti, ein Kilo Mehl. Frage man die Hilfesuchenden, was ihnen am meisten helfe, laute die häufigste Antwort: «Spaghetti und eine Dose Tomaten».
Möchten neue Hilfesuchende in die Facebook-Gruppe aufgenommen werden, wird das Profil sorgfältig geprüft. So könne der Missbrauch so gut es gehe vorgebeugt werden.
Über 40 Pakete gelangten so im ersten Jahr von Schenkern zu Beschenkten. Bereits 143 waren es im zweiten Jahr. Ab dem 1. November kann man der Gruppe #adventskalenderumgekehrt auf Facebook wieder als Helfer oder Hilfesuchende beitreten. Bis zum 1. Januar ist sie jeweils geöffnet. Beitritte müssen genehmigt werden.
«Die Geschichten der Hilfesuchenden, die ich in dieser Zeit lese, sind oft schlimm: Manche sind krank, andere haben häusliche Gewalt erlebt.» Nachdem sie auf diese Weise Hunderte Armutsschicksale kennen gelernt hat, weiss Julia Nickel: «Unter das Existenzlimit fallen kann jeder. Es reicht eine Krankheit, ein Unfall, dann zahlt die IV zuerst nicht – schon ist man in der Abwärtsspirale.»
Für die kommende Paketaktion konnte sie gar einen Star gewinnen: Die Fernsehköchin Meta Hiltebrand persönlich versendet vier Fresspäckli. Und: Sie lädt 40 Personen aus #adventskalenderumgekehrt zum Fondue in ihr Zürcher Restaurant «Le Chef» ein. Julia Nickels kleine Tochter meldet sich. Sie hat Hunger. Die Mutter macht den Herd an. Es gibt Spaghetti mit Tomatensauce.
Die Gruppe #adventskalenderumgekehrt wird am 1.11. auf Facebook aufgeschaltet. Das Datum für den Fondueanlass wird dort bekannt gegeben.