Flurina Dünki (Text und Foto)
Bild: Mike Hunziker in seiner Wohnung neben «Miggu», der seine allererste Feuerwehrausrüstung trägt.
Er erinnert sich exakt an die Uhrzeit, als er die Hiobsbotschaft erhielt. 13.35 Uhr war es, Mike Hunziker lag im Spitalbett, als der Arzt ihm die Diagnose überbrachte. Die ihn traf wie ein K.-o.-Schlag, ihn packte und auf den Boden schleuderte, wo sich ein tiefes Loch auftat. An diesem 16. November 2017 bekam er die Diagnose primär progrediente Multiple Sklerose. Ein seltener und schlimmer MS-Typ. Schleichend würde Hunziker Körperfunktionen für immer verlieren, unter anderem das Gehen. Es gibt keine Heilung.
Der freie Fall ins dunkle Loch dauerte lang, Tage, Wochen. Doch er endete nicht mit dem Aufprall, sondern im Rettungsnetz. «Ich sperrte mich in der Wohnung ein, öffnete niemandem, ging nicht ans Telefon», sagt der 38-Jährige heute, über ein Jahr später. Seine Eltern weihte er ein, vor allen anderen versteckte er sich. Er war Feuerwehrmann, wurde 2014 gar Vizekommandant der Feuerwehr Oberwynental. Er war der, der anderen Menschen half, «nun würde ich von der Hilfe anderer abhängig sein.» Das ging nicht in seinen Kopf.
«Meine Freunde und Kollegen gaben nicht auf. Immer wieder klopften sie an die Tür, schickten Textnachrichten.» Eines Tages zeigte die feuerwehrmännische Hartnäckigkeit Wirkung: «Entweder versteckst du dich für den Rest deines Lebens oder du lebst weiter», habe er sich selber gesagt. Beim nächsten Klopfen machte er auf. Er liess sich ins Netz fallen.
Hunziker sitzt am Esstisch seiner Menziker Wohnung. Vor ihm türmen sich Weihnachtskarten. Auf allen lacht ein im Rollstuhl sitzender Mike Hunziker dem Empfänger entgegen. 25 hat er bereits geschrieben, 150 sollen es werden. Das Umfeld, das ihn psychisch aufgepäppelt hat, bekommt ein Lachen geschenkt. Er greift nach der Krücke, steht auf und geht in die Küche Kaffee machen. Flink läuft er zwischen Geschirrschrank und Kaffeemaschine hin und her, obwohl das linke Bein nicht mehr mit macht. «Ich bin geübt mit der Krücke und heute geht das gut so», sagt er. «Doch was ist morgen? Es kommen laufend Beschwerden hinzu, dann muss ich erneut herausfinden, wie ich zurechtkomme.»
Aus heiterem Himmel hatte ihn die Diagnose damals nicht getroffen. Schwindel, Müdigkeit, das Kribbeln im Bein, das seit längerer Zeit kam und ging: Etwas konnte nicht stimmen. Er recherchierte, fand MS als mögliche Antwort. «Doch das wollte ich nicht glauben. Lieber habe ich die Symptome runtergespielt. Das kommt schon wieder», habe er sich gedacht.
Krank sein, liegen und ausruhen, das war einfach nicht er. Er war der Bankvertreter, der von Kunde zu Kunde eilte und der Feuerwehrmann, der wöchentlich mit seinen Kollegen Übungsbrände löschen ging.
Erste Anzeichen, dass er sich der Wahrheit stellen muss, kamen im August 2017. «Ich fiel dauernd grundlos hin, spürte manchmal plötzlich mein linkes Bein nicht mehr und hatte Probleme mit der Blase.» Ein Diagnose-Marathon folgte, der in der MRI-Röhre endete. Was diese zutage brachte, erfuhr Hunziker an jenem 16. November 2017. «Kann man noch etwas machen?» – «Nein.» Das Gespräch mit dem Arzt war kurz, Hunzikers Zukunft klar: stärker werdende Lähmungserscheinungen, Müdigkeitsanfälle, Schwächegefühle, Blasenprobleme. Seine Arbeit würde er nicht mehr ausführen können. Die Spirale zeigte abwärts.
Dann griffen ihm all die Hände unter die Achseln. Familie, Freunde, Kollegen, so viele, wie in seiner Stube Weihnachtskarten auf dem Tisch liegen. Die Unterstützung half ihm, hilft ihm immer noch über wiederkehrende Krisen hinweg.
Etwa, wenn er vor lauter IV-Bürokratie nicht mehr weiss, wo ihm der Kopf steht. Wenn er grübelt, wie er seine 5 ½- Zimmer-Wohnung halten soll. Oder als er seine Selbstständigkeit in Gefahr sah, weil das Gehen ihn zu sehr erschöpfte. «Für den 10-Minuten-Fussweg zum Bahnhof brauchte ich mit der Krücke eine Stunde.» Er beichtete die Episode einem Kollegen, der Rollstühle vertreibt. Kurz darauf brachte ihm dieser seinen «Ferrari», wie Hunziker seinen Elektrorollstuhl humorvoll nennt. «Als ich zum ersten Mal damit losfuhr, war das eine Befreiung», sagt er.
Für lange Strecken kann er momentan noch ins Auto steigen – dank Automatik. Das braucht er auch, denn seine Agenda ist voll: Ergotherapie, Physiotherapie, Psychotherapie, Neurologietests und Schlafprogramm. Irgendwann wird er den Autoschlüssel abgeben müssen. Noch ist es aber nicht soweit. «Ich lebe heute. Nicht morgen und auch nicht gestern.» Und heute ist Hunziker Stabsoffizier bei der Feuerwehr. Ein speziell für ihn geschaffener Posten. Den er bekam, als er vor kurzem anlässlich einer Feuerwehrübung als Vizekommandant verabschiedet wurde. So wird er sich dem Gegenüber auch bis auf weiteres vorstellen mit: «Mike Hunziker, Feuerwehrmann.»